Unser ADHS-Wunderland: Zwischen Superhelden und Sockendramen

Mein Kopf fühlt sich manchmal an wie ein surrealer Bahnhof : ständige Durchsagen, Züge, die in alle Richtungen abfahren, und keiner davon hält da, wo er soll. Ich jongliere Gedanken, Aufgaben und Gefühle wie ein gestresster Fahrdienstleiter. Ich möchte auf jeden Zug aufspringen, was jedoch unmöglich ist.

Und dann kommen die Kinder ins Spiel. Plötzlich ist mein Bahnhof nicht mehr nur voll – jetzt landen auch noch Helikopter. Mit blinkenden Lichtern. Und Sirenen.

Am Morgen ist der eine Zug – der Gedanke „Oh, ich muss den meinen Sohn wecken, damit er rechtzeitig in der Schule ist“ – doch dieser muss oftmals eine Weile im Kreis fahren, da besagter Sohn ganz andere Züge in seinem eigenen Kopf rasen hat. Wenn er endlich aufgestanden ist und sich anziehen soll, ist bei ihm der Spiel- und Spaßzug besonders aktiv. Bei mir meldet sich ständig das weiße Kaninchen und ruft unaufhörlich «gleich schon wieder zu spät, zu spät.» Der Countdown läuft und wir suchen die Socken, die irgendwo in seinem Zimmer sind. Entweder ist nur ein Socken auffindbar, oder beide sehen schon sehr schmutzig aus, dann müssen frische her. Allerdings brauchen frische Socken besonders viel Zeit zum Anziehen. Mein Sohn kämpft hart mit ihnen, bis sie sich endlich gehorsam an seine Füße schmiegen. Die Zeit drängt.

Ich suche den Notknopf, den Ausschalter, den Notausgang. Doch den gibt es nicht. Ich esse Schokolade und beantworte die Frage der Lehrerin, warum mein Sohn schon wieder zu spät in der Schule war, mit gespielter Gelassenheit. Innerlich fühle ich großen Druck. Warum kann er nicht früher schlafen gehen, dann wäre er am Morgen fit! Zu seiner kürzlich erhaltenen ADHS-Diagnose scheint sich noch eine deutliche Präferenz der Abendstunden zu gesellen, er ist die Nachtigall und nicht die Lerche…zumindest im Winter. Seine Ignoranz gesellschaftlicher Normen macht uns zu Außenseitern. Zugfahren, in einem Restaurant auf das Essen warten, all das geht meist nicht ohne schräge Blicke und Seufzer der anderen Anwesenden.

Für mich als das angepasste, brave Mädchen, das ich meistens war, eine große Herausforderung. Ich verstehe einerseits die anderen Leute, bin selbst strapaziert von der Lautstärke, mit der mein Sohn seine Gedanken kundtut. Andererseits bewundere ich sein Selbstbewusstsein und verstehe langsam auch immer besser, welche Herausforderungen seine Neurodiversität mit sich bringt.

Schon immer hat er sich für Superhelden interessiert und heute verstehe ich, dass die Bewältigung des Alltags für eine Person im Spektrum der Neurodiversität tatsächlich Superkräfte erfordert. Die Psychologin erklärte uns, dass ein gewöhnlicher Schultag für meinen Sohn schon sehr anstrengend ist, und er sich daher, wenn er nachhause kommt, nicht mehr so gut beherrschen kann und dann leicht reizbar ist. Es braucht Mut, Ausdauer und manchmal auch die Fähigkeit, die Erwartungen anderer einfach zu ignorieren, wenn das Maß voll ist. Das nennt sich dann Selbstfürsorge.

So beginne ich zu verstehen, dass mein Sohn und ich gar nicht so verschieden sind. Die Herausforderungen, die er hat, spiegeln sich auch in meinem Alltag wider – in der Art, wie ich versuche, mich durch die Vielzahl von Aufgaben zu kämpfen, immer auf der Suche nach Struktur, die sich meinem Chaos entziehen will. Und jedes Mal, wenn ich etwas bewältige, was für andere vielleicht selbstverständlich scheint, setze auch ich meine eigenen Superkräfte ein.

Das Wichtigste, was ich dabei gelernt habe? Sich nicht mit anderen zu vergleichen. Unsere Welt mag etwas chaotisch sein, aber sie ist auch kunterbunt und voller Leben. Pippi Langstrumpf hätte bestimmt einen Riesenspaß bei uns.

Manchmal wünschte ich, ich könnte die Dinge leichter nehmen – wie Pippi, die stolz sagt: „Das habe ich noch nie versucht, also bin ich sicher, dass ich es schaffe.“ Vielleicht ist das die wahre Superkraft, die mein Sohn und ich gerade lernen: uns selbst zu akzeptieren, mit all unseren kleinen und großen Eigenheiten. Denn die machen uns nicht nur besonders, sondern auch unendlich stark.

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